Meine – etwas andere Ansprache – zum Volkstrauertag 2024
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„Vergesst die Toten nicht!“
So hieß es kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bei der Gründung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Vergesst die Toten nicht!
Bert Brecht hat dagegen befürchtet: „Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich
kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer.“ Und er fordert uns auf: „Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen,
damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern.“ Diesem Appell möchte ich mich anschließen.
[…]
Heute, an diesem Volkstrauertag, möchte ich nicht nur an die historischen Ereignisse erinnern, die uns bis in die Gegenwart prägen, sondern an die Menschen, die hinter diesen Ereignissen stehen –
an die Schicksale, die oft in der Anonymität der Geschichte verschwinden. Ich möchte Ihnen nicht davon erzählen, dass die beiden Weltkriege 60, 70 oder 80 Millionen Menschenleben kostete. Das
können wir ohnehin nicht erfassen. 60, 70 oder 80 Millionen Leichen.
In jedem Krieg und in jeder Katastrophe gibt es nicht nur Zahlen und Daten. Es gibt Namen. So, wie die Namen, die an den Ehrenmalen in Schieder-Schwalenberg zu lesen sind. Es gibt Gesichter. Es gibt Erzählungen, die es wert sind, erzählt zu werden. Es sind Menschen, die es wert sind, dass wir uns an sie erinnern. […]
Hinter jedem einzelnen gefallenen Soldaten verbirgt sich unerträgliches Leid, hinter jedem einzelnen gefallenen Soldaten verbirgt sich ein nicht
auszuhaltender Schmerz und eine trauernde Familie, hinter jedem gefallenen Soldaten verbirgt sich das viel zu frühe Ende eines jungen Menschen, der seine Zukunft noch vor sich hatte. 60, 70 oder
80 Millionen Mal.
[…]
Deshalb möchte ich heute einen Menschen in den Mittelpunkt meiner heutigen Ansprache stellen, die dadurch etwas anders wird, als üblich.
Ich kenne niemanden der Soldaten, an die hier erinnert wird. Und trotzdem hat sich bei mir ein Name ganz besonders eingebrannt. Der Name findet sich
auf einem Ehrenmal in Schieder-Schwalenberg und den habe ich auch im letzten Jahr schon erwähnt:
Karl W.
Ich kenne ihn nicht und ich kenne auch die Geschichte dahinter nicht, aber als ich den Namen entdeckt habe, ging mir das nahe, vielleicht auch, weil ich diesen Namen unfreiwillig immer mit einem Lied in Verbindung bringen muss. Darauf komme ich gleich zurück.
Der erste Weltkrieg begann 1914. Karl ist gerade einmal 17 Jahre alt. Ein junger Mann, nein, eigentlich noch ein Kind. Und Karl ist bereits als Soldat mitten im Krieg. Soweit die Tatsachen.
In dem Alter darf ich unterstellen, dass Karl nicht eingezogen wurde, sondern sich freiwillig gemeldet hat. Das war nicht ungewöhnlich, denn in Deutschland herrschte geradezu eine Kriegseuphorie. Wie gesagt, ich kenne Karl nicht, es ist nur eine Vermutung.
Ob seine Euphorie schnell verloren ging, als er mit der Realität konfrontiert wurde? Vielleicht hat er sehr schnell die schrecklichen Seiten des Krieges kennengelernt. War er immer noch vom Krieg begeistert, als er an der Front in erste Kämpfe verwickelt wurde, als er über die ersten Leichen hinwegstieg, als er sich von den ersten Kameraden verabschieden musste?
Vielleicht hat er Briefe von der Front an seine Eltern geschrieben. Briefe in denen er von den schrecklichen Umständen berichtete – von der Kälte, der Angst und dem unaufhörlichen Lärm des Krieges. Vielleicht war Karl bereits ein gebrochener junger Mann. Sein Enthusiasmus, seine Siegesgewissheit waren verflogen und der Glaube, Weihnachten 1914, wenige Wochen nachdem er sich zum Kriegsdienst meldete, wieder zuhause zu sein, ist der bitteren Realität gewichen. Kriege schreiben eben ihr eigenes Drehbuch.
Karl war wahrscheinlich nicht in Flandern an der Front. Dort spielte sich etwas Ungeheuerliches ab. Britische und deutsche Soldaten legten am Heiligen Abend des Jahres 1914 die Waffen nieder, weil sie Weihnachten feiern wollten. Soldaten, die eben noch aufeinander schossen, sangen jetzt gemeinsam Weihnachtslieder und tauschten kleine Geschenke.
Es gibt dazu übrigens einen Bericht, wie dieser Weihnachtsfrieden ein paar Tage später wieder beendet wurde: „Um 8:30 Uhr wurden drei Schuss in die Luft gefeuert und die Briten hissten eine Flagge mit der Aufschrift „Merry Christmas“. Auf der anderen Seite der Front erschien ein deutscher Hauptmann, der ein Tuch in die Höhe hielt, auf dem „Thank you“ geschrieben stand. Beide salutierten und gingen in ihre Gräben zurück. Ein deutscher Soldat schoss zweimal in die Luft, danach war wieder Krieg.
Karl war wohl nicht beteiligt an diesem Weihnachtsfrieden. Vielleicht hat er aber kurz vor Weihnachten einen verzweifelten Brief geschrieben, der pünktlich zum Weihnachtsfest bei seinen Eltern ankam. Darin schrieb er: „Ich hoffe so sehr, bald wieder bei euch zu Hause zu sein, und dann möchte ich nie mehr von diesem verdammten Krieg hören müssen.“
Ein Satz, der sich seinen Eltern für alle Zeiten ins Gedächtnis gebrannt hatte.
Warum ich vermute, dass Karl nicht am Weihnachtsfrieden an der Front in Flandern beteiligt war? Karl ist am ersten Weihnachtstag 1914, also bereits wenige Wochen, nachdem dieser junge Mensch Soldat wurde, im Alter von nur 17 Jahren gefallen – und das ist jetzt keine Phantasie, sondern bittere Realität.
Seine Hoffnung, bald wieder zu Hause zu sein, hatte sich also nicht erfüllt. Er durfte seine Jugend nicht leben. Er war Soldat, um zu sterben, nicht
um jung zu sein.
Wie er gefallen ist, darüber kann ich auch nur spekulieren:
Soldat, gingst du gläubig und gern in den Tod?
Oder hast zu verzweifelt, verbittert, verroht
deinen wirklichen Feind nicht erkannt bis zum Schluss?
Ich hoffe, es traf dich ein sauberer Schuss
Oder hat ein Geschoß dir die Glieder zerfetzt
Hast du nach deiner Mutter geschrien bis zuletzt
Bist du auf deinen Beinstümpfen weitergerannt
Und dein Grab, birgt es mehr als ein Bein, eine Hand?
Ja, auch dich haben sie schon genauso belogen
So wie sie es mit uns heute immer noch tun
Und du hast ihnen alles gegeben:
deine Kraft, deine Jugend, dein Leben
Das sind Zeilen aus dem Lied „Es ist an der Zeit“ von Hannes Wader und wenn ich dieses Lied höre, dann muss ich an Karl denken, den ich doch überhaupt nicht kannte. Karl war einer von Millionen von jungen Männern, deren Leben vom Krieg zerstört wurde. Karls Familie hatte einen hohen Preis bezahlt, und auch in der Dorfgemeinschaft hinterließ sein Tod eine tiefe Lücke.
Es sind solche Schicksale, die uns zeigen, dass Kriege nicht nur Geschichtsdaten sind. Es sind solche Schicksale, die untrennbar mit dem Krieg verbunden sind. Karl war nicht irgendein unbekannter Soldat. Einer von 60, 70 oder 80 Millionen Toten. Er war ein Sohn, ein Bruder, ein Freund. Jedes Leben, das im Krieg verloren geht, hat eine Bedeutung. Und jede Familie, die um einen geliebten Menschen trauert, trägt die Last des Krieges für den Rest ihres Lebens. […]
Deshalb ist der Volkstrauertag nicht nur eine Erinnerung an die Verluste, sondern auch eine Mahnung für die Zukunft.
[…]
Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir diese dritte Chance, die wir erhalten haben, nicht wieder vergeben werden und ich bitte Sie ebenfalls darum.