Am heutigen Volkstrauertag können wegen der besonderen Situation der Corona-Pandemie leider nicht die Gedenkveranstaltungen stattfinden, wie wir sie kennen. Trotzdem denken wir auch heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker. Wir gedenken auch heute der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren. Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde. Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten. Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren. Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind. Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten, und teilen ihren Schmerz. Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.
Gerade in diesem Jahr, in dem vieles in den Hintergrund gerät und die Pandemie alles überlagert, halte ich es für besonders wichtig, die Erinnerung wachzuhalten. Es geht dabei nicht darum, dass wir uns dabei schuldig fühlen. Es geht aber darum, dass wir uns der Verantwortung stellen, die sich aus unserer Geschichte heraus ergibt.
Allein die beiden Weltkriege haben unglaublich viele Menschenleben gekostet. Je nachdem, welche Quellen man heranzieht, schwanken die Zahlen zwischen 80 und 100 Millionen Toten. Es sind unvorstellbare Zahlen, vor allem aber sind es abstrakte und anonyme Zahlen. Selbst wenn man es wollte, kann man sich kaum ein Bild davon machen, welches Leid und welche Geschichte hinter jedem einzelnen dieser Opfer stehen.
Anders wird es, wenn man den örtlichen Bezug sucht. Nehmen wir zum Beispiel das Ehrenmal in Wöbbel. „Unsern Gefallenen 1914-1918 zum ehrenden Andenken gewidmet“, durch die Gemeinde Wöbbel. Es musste von seinem ursprünglichen Standort weichen und steht jetzt versteckt am äußersten Rand des Parks. Optisch ein würdevoller Standort, aber tatsächlich an den äußersten Rand des Dorflebens gedrängt. Hier findet man die Namen der im ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten. 37 Namen finden sich dort wieder, was für ein kleines Dorf mit damals rund 600 Einwohnern beträchtlich ist. Das sind 37 Kriegstote, 37 Schicksale und 37 Mal mussten Mütter, Väter, Ehefrauen und vielleicht auch Kinder die schreckliche Nachricht entgegennehmen. „Gefallen für das Vaterland“. Man findet dort Namen, die es auch heute noch in Wöbbel gibt: Hilker, Hölscher, Brakemeier, Holzkämper, Bruns und andere. Dort findet man auch den Namen und die Daten des jungen Heinrich H., der in der 5. Kompanie des Reserve-Infanterie-Regiments 256 diente. Der junge Heinrich ist gerade einmal 21 Jahre alt, hat das ganz Leben noch vor sich, als er durch einen Kopfschuss in Litauen ums Leben kommt. Mit nur 21 Jahren wurde dieses junge Leben abrupt beendet, obwohl noch so viel vor ihm lag. Ich frage mich, was Heinrich für ein Mensch war. War er einer dieser fehlgeleiteten jungen Männer, die mit fester Überzeugung in den Krieg gezogen sind oder war er jemand, der sich seinem Schicksal gefügt hat? War er verliebt? Wer hat zuhause um ihn gebangt und bei der Nachricht von seinem Tod bitterliche Tränen vergossen? Er hat mit seinem Blut für andere bezahlen müssen, vielleicht selbst fehlgeleitet, aber wahrscheinlich nicht verantwortlich. Er war jung, viel zu jung und am Ende nur eine anonyme Zahl in der Statistik der Weltkriegstoten. Und hat sicher der Tod für irgendetwas gelohnt?
Es sind eben keine anonymen und abstrakten Zahlen. Hinter jedem Toten steht eine Geschichte, die es wert wäre, dass man für sie eine Minute des Schweigens einlegen sollte. Würden wir das aber tun, dann wäre es die nächsten 150 Jahre still bei uns.
Die Zeit der Weltkriege ist schon lange vorbei und es ist gut, dass wir schon so lange in Frieden und in einer Demokratie leben dürfen. Dadurch erscheinen Frieden und Demokratie allerdings als Selbstverständlichkeit. Die Erinnerungen verblassen, der Schrecken des Krieges verblasst. Deswegen ist es unsere Aufgabe, diese Erinnerung wachzuhalten und nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.
Und wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass Frieden und Demokratie nie plötzlich verschwinden. Das geschieht stattdessen in kleinen Schritten, zunächst unmerklich, dann immer schneller und irgendwann ist es zu spät. Die Gefahr geht dabei einerseits von denen aus, die jeden moralischer Kompass verloren haben. Andererseits aber auch von denen, die schweigen. Schweigen ist das Problem, das den Feinden der Demokratie und den Kriegstreibern den Weg ebnet. Deshalb müssen wir immer wieder Partei ergreifen für die Demokratie und den Frieden. Demokratie und Frieden sind keine Konsumgüter, die wir gerne verwenden, um uns ein schönes Leben zu machen. Demokratie und Frieden müssen jeden Tag neu verteidigt werden und dafür brauchen wir Rückgrat. Deshalb brauchen wir weniger Helden und mehr Menschen mit Zivilcourage.
Und um uns das immer wieder von Neuem klar zu machen, ist es wichtig, die Erinnerung an unsere Vergangenheit wachzuhalten. Nur so können wir verhindern, dass wir die gleichen Fehler wiederholen.
Auch wenn heute die traditionellen Gedenkfeiern in Schieder-Schwalenberg nicht stattfinden, haben wir als Zeichen des Gedenkens an den Ehrenmalen in Schwalenberg, Lothe, Brakelsiek, Schieder, Glashütte, Siekholz und Wöbbel Kränze niedergelegt. Ich bedanke mich für die Unterstützung in den Ortsteilen und bitte Sie alle darum, nicht zu vergessen. Seien Sie das Rückgrat unserer Demokratie und des Friedens!